Mit dem Palmsonntag treten wir in die Karwoche ein. Sie ist der Höhepunkt des Kirchenjahres. Denn Ostern ist das höchste Fest der Christenheit: die jährliche Feier des Leidens, Sterbens und der Auferstehung Jesu, die mit dem Palmsonntag beginnt und mit dem Ostersonntag endet. Am Anfang und am Ende der Karwoche stehen Freude und Begeisterung. Dazwischen aber liegen die schmerzlichen Tage des Leidens Jesu: er wird verraten, gefangengenommen, zum Tod verurteilt, stirbt qualvoll am Kreuz und wird begraben.

 

Von all dem ist heute noch nichts zu spüren. Begeistert wird Jesus in Jerusalem begrüßt. Eine große Menschenmenge jubelt ihm zu. Was erwarten die Leute von ihm? Das wird erst aus dem Zusammenhang verständlich. Jesus pilgert, wie jedes Jahr, zum jüdischen Osterfest nach Jerusalem hinauf. Bis zu 100.000 Pilger kommen aus allen jüdischen Gemeinden in die heilige Stadt, um dort Pessach, Ostern, zu feiern, das große Fest der Befreiung der Juden aus der Sklaverei Ägyptens.

Mit diesem Fest ist aber immer auch die Hoffnung auf eine neue, endgültige Befreiung verbunden: Alle erwarten, dass einmal zu Ostern in Jerusalem der Messias sich zeigen und aller Unfreiheit ein Ende bereiten werde. Viele blicken mit dieser Hoffnung auf den Mann aus Nazareth, auf Jesus. Hat er nicht schon viele Wunder gewirkt? Ist er der verheißene Befreier? Hochgespannte Erwartung begleitet sein Kommen nach Jerusalem.

 

Und Jesus selber scheint diese Erwartung durch eine einfache Geste anzuheizen: Er lässt sich einen Esel bringen und setzt sich darauf, um auf diesem bescheidenen Reittier in Jerusalem einzuziehen. Seine Begleiter verstehen sofort, denn bei den Propheten ist angekündigt, der Messias werde demütig auf einem Esel, und nicht stolz hoch zu Ross, daherkommen: „Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist friedfertig und reitet auf einer Eselin.“ Daher rufen ihm seine begeisterten Jünger zu, als Jerusalem in Sicht ist: „Gesegnet sei der König, der kommt im Namen des Herrn.“

Jesus wollte offensichtlich ein Zeichen geben, dass er wirklich der erwartete Messias ist. „Ja, ich bin ein König!“ – wird er in wenigen Tagen zu Pilatus sagen. „Aber mein Reich ist nicht von dieser Welt“, stellt er dem Vertreter des Kaisers gegenüber klar. Auch seine eigenen Anhänger werden das mit bitterer Enttäuschung erkennen müssen. Jesus zieht nicht als Eroberer in Jerusalem ein. Er will ein anderes Reich, das nicht auf der Gewalt der Waffen aufbaut, sondern auf der Macht der Liebe, der Gerechtigkeit und des Dienens. Das ist aber vielen zu wenig. Bald wird die Begeisterung in Wut umschlagen. Am Karfreitag wird die Menge lautstark fordern: Ans Kreuz mit ihm!

 

Heute wird in allen Kirchen die Leidensgeschichte Jesu vorgelesen. Es tut gut, in diesen Tagen Jesus Schritt für Schritt zu begleiten. Denn was Jesus in dieser Woche durchlebt hat, kommt in der einen oder anderen Form in jedem Leben vor: Zeiten der Begeisterung, der Anerkennung, des Lobes; Momente voller Hoffnung und Erwartung. Dann aber Zeiten des Misserfolgs, wo alle sich abwenden; Zeiten des Leides, der Schmerzen, der Verachtung. Es tut gut zu wissen, dass am Ende des Weges die Auferstehung steht, nicht nur für Jesus, auch für uns.

 

Kardinal Schönborn